Prosexuell: Vorleben einer Sexualität ohne Dogmatismus?


Die Debatte über Sinn und Unsinn der Schwulenszene läuft ununterbrochen. Auf Homo- und Heteroseite dominieren noch dogmatische Vorstellungen. Die spüren besonders Bisexuelle.


Der junge Beni hat eine Krise. Vor fünf Jahren hat er sich bei seinen Eltern und Freunden als Schwul geoutet. Seither hat er viel erlebt: Ging mit älteren Männern unter die Decken, zeigte seine schlanke Figur auf Schwulenparties und lernte den „schwulen Lebensinhalt“, wie er es nennt, von vielen Seiten her kennen. Ja es ging noch weiter: Beni war sogar ein ziemlich militanter Schwuler, der sich gegen jede Geheimnistuerei und Anpassung an das „Bünzlitum“ wehrte.

Und bevor Beni den Grund für seine Krise offenbart, sagt er stark: „Ich bin immer noch so eingestellt. Da hat sich nichts verändert.“ Es ist mehr ein körperliches Gefühl, das Beni zum Grübeln bringt – doch er hat starke Mühe, es zu äussern. Langsam dringt es durch, während er zu Boden schaut - „Es könnte sein, dass ich Bisexuell bin“, platzt es aus dem 23-jährigen heraus. Es beschäftigt ihn sichtlich und sein zweites Outing bei den Eltern bereut er bereits: „Seit ich meinen Eltern gesagt habe, dass ich Bi sein könnte, schmieden sie schon Heiratspläne und überlegen, welche Frau für mich die Beste ist“, klagt Beni. Jetzt hat Beni noch mehr Mühe, sich bei seinen schwulen Freunden zu outen: „Ich habe es bei meinem Ex versucht. Der glaubt mir nicht“, sagt Beni traurig. Und was ihn doppelt und dreifach wütend macht: Jene Schwulen, die früher über die Szene abgemotzt hatten und sich bei Heteros anbiederten, werfen ihm nun vor, er wolle sich anpassen.

Warum denken die Leute immer in Schubladen?“, fragt sich Beni verzweifelt. Als ehemaliger Gelegenheits-Stricher weiss er, dass viele Männer sich als Bi ausgeben, um nicht Schwul sein zu müssen: „Ich habe hier krasse Verdrängungsmenschen und Klemmschwestern erlebt – ich bin aber keine!“ schimpft er. Beni hat für sich schon einige Regeln aufgestellt – zum Selbstschutz, wie er sagt: Bei Heteros mit schwulenfeindlicher Einstellung würde er sich immer mit Absicht als Schwul outen – „auch wenn ich’s manchmal mit Girls mache. Diesen Gefallen mach ich den Heten nicht“, lacht Beni. Und seinen Eltern wird er auch nicht mehr zu viel berichten: „Ich glaube, sie verstehen nicht, wie man sich sexuell auf beide Geschlechter einlassen kann.“


Festlegung unnötig?

Benis Fall ist nicht einmalig: So zeigt auch der als Komödie geltende Streifen aus Deutschland „Coming In“ das Problem eines Schwulen, der sich als Bi – später sogar als Hetero - outen will: Er wird von der Szene verstossen.

Bis vor zehn Jahren hatte die Schwulenszene noch viel mehr die Funktion eines Schutzraumes, einer geschlossenen Front. Ein Austreten galt als Verrat. Doch heute? „Je weniger Diskriminierung von Aussen kommt, desto weniger braucht es eine Schwulenszene“, sagt Gründungsredaktor der Schwulenzeitschrift hinerk in einer kürzlich durch die deutsche Presselandschaft gezogenen Debatte. Der Autor des Buches „Schöne schwule Welt – Schlussverkauf einer Bewegung“ kritisiert darin die heutigen „Berufsschwulen“, die sich „auf ewig in die Opferposition manövriert sehen wollen.“

Tatsächlich findet sich heute in der Szene noch ein gewisser Dogmatismus: Es gebe strenge Spielregeln in der Schwulenszene.

Bisexualität hingegen sei das Vorleben von Sexualität ohne Vorurteile. Deshalb sei sie oft von Heterosexueller bürgerlicher Seite und von eingefleischter Schwulenseite wenig geschätzt, meint Hinzpeter.

Eine breite Masse von Menschen – nenne wir sie die Öffentlichkeit – hat schon immer versucht, die komplizierte Welt in einfache Schubladen zu unterteilen: gut oder böse, links oder rechts, schwul oder hetero. So schreibt hinerk-Redaktor Werner Hinzpeter die Schuld auch der „dogmatischen Schwulenszene“ zu.

Die Schwulenszene ist ein Ort der Zuflucht. Ältere Männer brauchen diesen geschlossenen Raum, um überhaupt Zugang zu ihrer Sexualität zu bekommen.“ Allerdings wurden in der Debatte auch Stimmen laut, die Hinzpeter Verbitterung über die Szene vorwarfen. Denn selbst der bisexuelle Beni ist überzeugt: „Wir – und damit meine ich die Homos – brauchen noch einen geschlossenen Raum. Es gibt auf der Heteroseite noch zu viel Dogmatismus.“


Grenzenloses Experiment

Es gab erstaunte, verwirrte aber auch neugierige Gesichter, als die neue schwullesbische Jugendgruppe in Basel ihren Namen bekannt gab: „Grenzenlos – die prosexuelle Jugendgruppe“ heisst das Kind, welches aus der ehemaligen schwulen Jugendgruppe Rose hervorgegangen ist. „Prosexuell? Was ist den das“, fragten sich einige Basler Schwule zu Recht. Im Rundschreiben an die Mitglieder lüftete der Vorstand dann das Geheimnis: „Prosexuell steht für das Gefühl junger Menschen, ihre Identität nicht mehr über die sexuelle Ausrichtung zu definieren“ – die Jugendgruppe sei offen für alle Fragen bezüglich den unterschiedlichen Formen der Sexualität. „Ist dann die Jugendgruppe auch für Heteros offen?“, stellten besorgte Schwule die Frage: Ja, das sei sie, doch kämen ja so oder so nur Heteros, die sich irgendwie für das Thema interessieren. Dieses Argument schlug ein: Das könne nur zu einer sinnvollen Öffnung führen, freuten sich einige.

Grenzenlos muss aber ausbalancieren: „Wir sind nicht so naiv, dass wir glauben, es gäbe für junge Schwule und Lesben keine Probleme mehr. Die Sorgen dieser Menschen haben natürlich Vorrang“, versichert der Vorstand.

Die Initianten der Jugendgruppe haben den Trend gerochen: Weg von der Schubladisierung soll es gehen. Diese Aktion steht allerdings jenen Stimmen entgegen, welche die Anpassung der Homosexuellen an die Norm kritisieren. „Ich denke aber, dass gerade diese Öffnung mehr Mut braucht, als sich immer noch im schwulen Kämmerchen zu verstecken“, meint eine Besucherin.

Wann schaffen wir es, die Blockaden von heterosexueller und schwuler Männlichkeit soweit in Frage zu stellen, dass wir sie nicht mehr brauchen, um unserem Begehren nach unserer Herzenslust zu folgen?“ Diese Frage stellte Werner Hinzpeter in der Debatte über Sinn und Unsinn der Schwulenszene in der heutigen Zeit. Die Jugendgruppe Grenzenlos will genau dies vorantreiben: Wie ernst die Idee genommen wird und ob sie Erfolg hat, steht noch in den Sternen.